(Nur) die Gedanken sind frei (von Lilo Ingenlath-Gegic – WZ 17.02.2024)

Eindrückliche Texte und Töne mit Olaf Reitz und Andre Enthöfer

Andre Enthöfer beginnt mit warmen Klarinettenklängen, lässt die Töne zittern. Unter dem Titel „Lagebesprechung“ liest der Schauspieler Olaf Reitz dazu aus politisch aktuellen Zeitungsartikeln und Studien. Enthöfer unterstreicht das mit eindrücklichen Improvisationen. Die beiden bestritten den Donnerstagabend (15.02.2024) in der Bandfabrik mit „Texten und Tönen“.

Im Artikel von Bijan Moini heißt es: „Ganz ohne Zuckerbrot und ohne Blick für die Alternativen lassen sich die Spitzen von Union und FDP, von SPD und auch den Grünen in ein Land peitschen, das sich kalt und unwirtlich anfühlt …“. Olaf Reitz liest sehr pointiert, die Schilderung der „brandgefährlichen“ Lage wird bedrückender und schneller. „Man kommt kaum noch hinterher. Auf dem ‚Spiegel‘-Cover prangt Bundeskanzler Scholz mit dem Satz, ‚wir‘ müssten ‚endlich im großen Stil abschieben‘“, liest Reitz. Enthöfer gestaltet rastlose Atemlosigkeit auf der Klarinette.

Ein zartes, fast flehendes „Shalom Chaverim“
Der nächste Text ist von der Zeit-Redakteurin Alisa Schellenberg. Sie erwägt, die ghanaische Staatsbürgerschaft zu beantragen, obwohl sie als Tochter eines ghanaischen Elternteils nie in Ghana war. Es geht um die Angst vor Remigration. Die Klarinette antwortet darauf mit dem Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud …“, gerät ins Stolpern und ins Stocken. Die Integrationsbeauftragte von Berlin-Neukölln beschreibt in einem Artikel schonungslos den Antisemitismus muslimischer Einwanderer. In Neukölln sei die Feindseligkeit gegenüber Juden überall zu spüren, der 7. Oktober sei dort gefeiert worden. Diese Dinge zu verändern sei etwas „für Marathonläufer, nicht für Sprinter“, liest Reitz lapidar. Enthöfer stimmt auf der Bass-Klarinette einen holprigen Weg mit viel Gegenwind an, das Volkslied „Kein schöner Land …“ erklingt pessimistisch in tiefsten Tönen. Die Texte an diesem Abend haben hohe Brisanz. Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien oder Fragebögen eines Doktoranden zur Typisierung des AfD-Wählers klingen sperrig, auch wenn sie von Olaf Reitz brillant gelesen werden.

Nach dem Exkurs über das Videoportal TikTok, bei dem „Politik zu Entertainment wird“, spielt Enthöfer zu einem TikTok-Takt einschmeichelnde Melodien. Um Hass, Hetze und Häme im Internet geht es im letzten Text. Reitz zitiert, dass die großen US-amerikanischen Tech-Konzerne fast den gesamten Datenfluss in Deutschland über Google, Apple, Microsoft, Amazon oder Meta regulieren und so unsere Demokratie und Wirtschaft zerstören. „Wir könnten den digitalen Hebel umlegen, …!“, schließt Reitz die Lesung. Das Lied „Die Gedanken sind frei“ erklingt dunkel gefärbt in Moll. Zart, fast flehend, mischt sich mit „Shalom Chaverim“ leise Hoffnung in die Klarinettenklänge.

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